Der Tag, an dem das Unaussprechliche geschah.
Am 07. Oktober 2023 ereignete der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust. Der Beitrag erinnert an das Massaker vom 07. Oktober und versucht die darauffolgenden gesellschaftlichen Entwicklungen grob zu fassen.
Der 07. Oktober 2023 war sowohl für den Nahen Osten als auch für die in der Diaspora lebenden Jüdinnen und Juden eine Zäsur (Chernivsky, Lorenz-Sinai). Da eine vollumfassende Beschreibung der Ereignisse in einem kurzen einleitenden Absatz kaum möglich ist, lasse ich an dieser Stelle Alvin H. Rosenfeld sprechen:
Der Angriff der Hamas auf die israelische Bevölkerung am 07. Oktober war keine Kriegshandlung, wie wir sie uns normalerweise vorstellen, sondern etwas sehr viel schlimmeres. Wir haben keinen adäquaten Begriff für das, was an diesem Tag geschah, also werden Worte wie "Terrorismus", "Barbarei", "Gräueltat", "Massaker" und so weiter verwendet. [...] Die Menschen, die an diesen Orten angegriffen wurden, sollten nicht nur sterben, sondern unter Qualen sterben.
Knapp 1.200 Menschen wurden brutalst ermordet und 250 entführt. Das Trauma innerhalb der israelischen (und jüdischen) Gesellschaft sitzt tief, und ob sich die internationale Reputation des jüdischen Staates innerhalb der nächsten Jahrzehnte wirklich bessern wird, ist fraglich.
Nun, zwei Jahre später, schwindet die Erinnerung an den 07. Oktober und die antisemitische Radikalisierung nimmt Fahrt auf.
Täter-Opfer-Umkehr und Schuldprojektion
Die Täter-Opfer-Umkehr in Bezug auf Israel ist nicht neu und auch der aktuelle Krieg ist wird davon nicht verschont. Die "marxistische orientierte" – was als Selbstbezeichnung nichts anderes als eine posthume Schändung des Namens Marx ist – Tageszeitung "junge Welt" veröffentlichte beispielsweise noch am Tag des Massakers einen Artikel mit dem Titel "Gaza schlägt zurück" und interviewte zwei Tage später einen Sprecher der am 07. Oktober beteiligten Organisation DFLP. Die Leichen lagen noch im warmen Blut, als auch andere vermeintlich linke bzw. rote Gruppierungen kurzentschlossen der Meinung waren, dass die Unterstützung der mörderischen Angreifer eine richtige – gar emanzipatorische – Reaktion sei.
Eine differentierte Analyse der Konfliktlage und ein ehrliches Mitgefühl für die Opfer des Terrors ist in diesen ideologischen Blasen unmöglich geworden. Die "Zionisten" sind aufgrund ihrer angeblichen Befürwortung eines Genozids im Gazastreifen mitschuldig, die "weißen Siedlerkolonialisten" gar Mittäter. Dabei verlieren nicht nur die verwendeten Begriffe ihre Bedeutung, sondern auch der eigentliche Gegenstand. So heiß es bspw. bei Johanna Bach:
Die antisemitische Tat stellt aus Sicht des doppelt falschen Bewusstseins also keinen Anlass zur Empörung dar, sondern einen "Beweis" für die bereits geahnte, universelle Schuldverstrickung von Jüdinnen und Juden.
Dementsprechend formt sich auch die notwendige Debatte über konkrete Politikansätze (Policies) in eine über abstrakte und oftmals national-völkisch ersehnte staatliche Ordnung (Polity) um. Der Fokuspunkt schwindet und die Frage, inwiefern der Konflikt zu lösen sei und welche Handlungsmöglichkeiten für eine künftige Prävention dessen bestehen, spielt keine Rolle mehr – Hauptsache Israel ist weg.
So verkommt das Gespräch und die Untersuchung des eklatanten Geheimdienstversagens (Wyss) zur "Inside Job"-Verschwörungstheorie (Berendsen, Schnabel).
Zunehmender Antisemitismus
Dass sich folglich die Stimmung in (vermeintlich) linken Kreisen zu einer fatal-antisemitischen entwickelt, liegt auf der Hand. Politische Debatten, Veranstaltungen und sonstige Anlässe werden seit jeher immer stärker instrumentalisiert. Der leninistische Humanökologe Andreas Malm verbindet beispielsweise den Krieg und das Leid in Gaza mit einem fossilen Kolonialismus, woraufhin der reißerische Titel "The Destruction of Palestine Is the Destruction of the Earth" entsteht – eine strategische Herangehensweise, die Bue Rübner Hansen (bei aller politischen Differenz) passend beschreibt, wenn er sagt: "Malms katastrophistische Perspektive und Methode gibt uns eine Klimapolitik vor, die auf Ausnahmezuständen und heroischen Aktionen aufbaut." Auch feministische und queere Anliegen bleiben vom Nahostkonflikt nicht verschont (Stögner). Die misogyne Gewalt am 07. Oktober wird im öffentlichen Diskurs ausgeklammert.
Constantin Winkler konstatiert folgerichtig:
Auch in der deutschen Linken hat sich eine antisemitische Radikalisierung der Bewegung vollzogen. Die antisemitismuskritischen Debatten, die in der Linken über mehr als drei Jahrzehnte geführt wurden, erscheinen dadurch für große Bewegungsteile fast als nichtig.
Festzuhalten ist zudem, dass diese Entwicklung nicht auf die politische Linke beschränkt ist, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt. So stieg die Gesamtzahl erfasster antisemitischer Vorfälle im Jahr 2024 im Vergleich zum Vorjahr um fast 77 % an – an Hochschulen ist sogar eine Verdreichung der Vorfälle festzustellen. Antisemitismus ist in allen Teilen des politischen Spektrums anzutreffen. Der RIAS-Bericht zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der antisemitische Haltungen sichtbarer, lauter und gewalttätiger werden und in breiten Teilen der Gesellschaft auf Resonanz stoßen.
"And the Winner Is … Hamas"
Im Juli veröffentlichte der österreichische Schriftsteller Richard Schuberth einen Artikel mit dem Titel "And the Winner Is... Hamas" – und der Titel fasst die Entwicklungen seit Oktober 2023 ganz gut zusammen. Spricht jemand heute Hebräisch auf den Straßen deutscher Städte, riskiert dieser Mensch sein Leben. Kippa, Davidstern und Menora sind zu Feindbildern geworden. Die mörderische Forderung "Globalize the Intifada!" wird blutige Realität.
Wurde 2023 lediglich in einzelnen radikalen Gruppen das Baklava rumgereicht, so versammelt sich 2025 die ganze Belegschaft zum antisemitischen Fest (Fuchshuber). Scheint der Ausdruck "vamos a matar judíos" (dt.: "gehen wir Juden töten") (Scheele) eine veraltete Version jener entmenschlichenden Festkultur zu sein, so wird allmählich der Schrei "Yallah, Yallah, Intifada!" zur allgemeinen Mode und das feiernde Kollektiv, dessen orgastische Entladung sich im besten Fall lediglich in Sprechchören, im schlechtesten Fall im Massenmord, manifestiert, negiert die Gewaltandrohungen seiner Festgesänge.
Die Hamas hat gewonnen.
Und was bleibt?
Das Resultat der letzten zwei Jahre ist ein erstarkter Antisemitismus, welcher sich in allen ideologischen und politischen Strömungen ausbreitet. Ein Austausch über das Grauen und das Leid am 07. Oktober und der darauffolgenden Gewalt im Gazastreifen ist für viele nicht mehr möglich. Auch die Hoffnung auf einen Frieden und eine positive Zukunft schwindet – der Schaden, den die Friedensbemühungen genommen haben, ist immens.
Wie viele Menschen heute auf die Straße gehen und dem Unaussprechlichen gedenken, kann ich nicht vorhersagen. Es sind sicherlich weniger als noch vor zwei Jahren. Und die Gefahr besteht, dass bald niemand mehr gedenkt.
Weiterführende Literatur
- Chernivsky. Marina / Lorenz-Sinai, Friederike: Der 7. Oktober als Zäsur für jüdische Communities in Deutschland, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Aus Politik und Zeitgeschichte 74 (2024), S. 19-24.
- Rosenfeld, Alfred H.: Sehnsucht nach Auschwitz. Weshalb der 7. Oktober auf die Wiederholung des Schlimmsten zielte, in: sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik Heft 24 (2024), S. 5-8.
- Bach, Johanna: Antiisraelisches Gefühlsregime. Empörung und Empörungsabwehr im Antisemitismus und nach dem 7. Oktober, in: Grigat, Stephan / Stögner, Karin (Hg.): Projektiver Antizionismus. Antisemitismus gegen Israel vor und nach dem 7. Oktober, Baden-Baden 2025.
- Wyss, Michel: The October 7 Attack. An Assessment of the Intelligence Failings, in: CTC Sentinel Volume 17 Issue 19 (2024), S. 1-9.
- Berendsen, Eva / Schnabel, Deborah: Die TikTok-Intifada. Der 7. Oktober & die Folgen im Netz, in: Bildungsstätte Anne Frank (2024).
- Hansen, Bue Rübner: Zwischen Sabotage und Staatsmacht. Eine Kritik an Andreas Malm, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft Bd. 52 Nr. 208 (2022), S. 509-529.
- Stögner, Karin: Angela Davis und Queer BDS. Was hat Feminismus mit Palästina zu tun? in: Grigat, Stephan / Stögner, Karin (Hg.): Projektiver Antizionismus. Antisemitismus gegen Israel vor und nach dem 7. Oktober, Baden-Baden 2025.
- Winkler, Constantin: Linker Antisemitismus nach 10/7 – Kontinuitäten
und aktuelle Entwicklungen, in: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.): Wissen schafft Demokratie Bd. 17 (2025), S. 108-121. - Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V.: Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2024, Berlin 2025.
- Schuberth, Richard: And the Winner Is... Hamas, in: jungle world, 24.07.2025.
- Fuchshuber, Thorsten: Pogrom und eliminatorischer Antisemitismus, in: sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik Heft 24 (2024), S. 77-103.
- Scheele, Uwe: Wenn Judas-Puppen brennen, in: Jüdische Allgemeine, 18.04.2011.